Oberth empfahl bereits in den 20er Jahren Ra­keten mit Flüssigtreibstoff zu versehen,  um eine höhe­re Austrittsgeschwindigkeit zu erzielen als es mit Feststoff mög­lich war. 1931 entwickelte Paul Hey­landt im Auf­trag des Heereswaffenamtes unter Karl E. Becker ein 20 kg Schub Triebwerk, das mit Flüs­sigsauer­stoff (LO2 od. engl. LOX) und Alkohol angetrie­ben wurde.  Nebel, Riedel und von Braun arbeite­ten 1932 am Raketenflugplatz in Berlin-Tegel eben­falls mit flüssigem Sauerstoff und kom­binierten ihn mit dem Brennstoff Benzin.  Neben der Kombination aus LO2 und Ethanol bzw. Benzin untersuchte Wahmke im Institut Schumanns alternativ Wasserstoffperoxid als Oxi­dati­onsmit­tel. In Zusammenarbeit mit dem Institut forschte Hellmuth Walter (Walter Werke, Kiel) ebenfalls an einem H2O2-Alkohol-Triebwerk.


Thiel war Chemiker und wurde für die Treib­stoff-Forschung vom Institut Schumann angewor­ben. Er betreute den Doktoranten Seifert, der sich mit den Verbrennungsvorgängen an dem 20-kg-Hey­landt-Triebwerk beschäftigte: „Bericht über Unter­su­chungen über die Eignung verschiede­ner Kraft­stoffe als Brennstoff für das Rauchspurge­rät II.“.  Darin wurden u.a. die Kombinationen LO2-Benzin, LO2-Butan, LO2-Benzol, LO2-Varol ana­lysiert. Die Ergebnisse der Arbeit nutzt Thiel auch später nach seinem Wechsel zu Dornberger nach Kummersdorf West.

Schon früh merkte Thiel, dass der in Kummers­dorf-West verwendete Treibstoff, die Kombination aus LO2 und Alkohol, nicht optimal war. Der Siede­punkt von Sauerstoff liegt bei -183°C. Diese nied­rige Tempe­ratur beim Befüllen der Rakete zu halten war schwierig, der Oxidator verdampfte leicht. Die Tanks mussten gut isoliert werden. Ein weiterer Nachteil war die Eisbildung an den Raketenbautei­len mit denen der flüssige Sauerstoff in Berührung kam. Außerdem benötigte der nicht-hypergole Treibstoff (nicht hypergol = keine Selbstentzün­dung) einen Zünder. Dies war beispielsweise ab 1938 ein Glühzünder mit Platin-Iridium-Legie­rung. Später wurde Rubid eingesetzt.

Ein Bericht von 1938 zeigt, dass neben den ge­nannten Treibstoffkomponenten außerdem an ei­nem Aurol-Ofen geforscht wurde. Au­rol war ein Tarnname für T-Stoff, also H2O2 (s. Tabelle).
Einen richtigen Schub erfuhr die Erforschung neuer Treibstoffe 1940 mit der Einstellung vieler neuer Mitar­beiter, u.a. des Chemikers Gerhard Heller. Gemein­sam schrieben Thiel und Heller viele Be­richte zur verbes­serten Zusammensetzung von Treibstof­fen und entsprechende Patente.

So formulierten sie 1941: „a) Unter den be­kannten Sauerstoffträgern ist entgegen der bisher oft übli­chen Anschauung nicht der flüssige Sauer­stoff der günstigste, sondern Tetranitromethan, Salpetersäu­ren und Stickstofftetroxyd. Der Einfluss der höhe­ren Dichte ist bei ihnen so groß, dass die geringere Ausströmungsgeschwindigkeit ... mehr als ausge­glichen wird. .... d) Unter den aufgeführ­ten Treib­stoffkombinationen sind die Kombinatio­nen Tetra­nitromethan-Kohlenwasserstoff (Dieselöl, Benzin, Benzol) und Salpetersäure-Kohlenwasser­stoff“.

Parallel zum A4-Triebwerk wurde an weiteren Projekten geforscht: A8, A9 (A4b oder Gleiter), A10 und an der Flak-Abwehrrakete „Wasserfall“ (C2).

Thiel legte bereits im Dezember 1941 Vor­schläge für ein 180-t-Triebwerk für A10 vor. Dabei sind für ihn die Treibstoffkomponenten Flüssigsau­erstoff und Ethanol bereits überholt. Grundlage bildet ein Gemisch aus Salbei (s. Tabelle 1) und Gasöl.

Für C2 plante man mit hypergolen (selbstentzün­denden) Treibstoffen. Thiel und Heller legten SV-Stoff und Visol (Vinyläther und Anilin mit einer löslichen Eisenverbindung als Katalysa­tor) als Treibstoffe fest. Bei der Forschung zur „Was­serfall-Rakete“ tritt ein Namensvetter von Thiel in Er­scheinung: Adolf Thiel, ein späteres Paperclip-Team-Mitglied. Beide waren nicht ver­wandt. Adolf Thiel arbeitete an der TH Darmstadt bei Prof. Walther an der Wasserfall-Rakete.

Aus Geheimhaltungsgründen wurden die Treib­stoffkomponenten mit Codenamen versehen. Im Folgenden eine Liste der verwendeten Bezeichnun­gen und der Auswahl an Treibstoffkomponenten:

Bezeichnung

Beschreibung

Oxidationsmittel

A-Stoff

Flüssigsauerstoff (LO2, engl. LOX)

S-Stoff oder Salbei

Gemisch aus: 96% Salpetersäure HNO3 und 4% Eisenchlorid FeCl2

SV-Stoff

Rotrauchende Salpetersäure, Gemisch aus:

90-97% Salpetersäure HNO3 und

3-10% Schwefelsäure H2SO4

T-Stoff oder

Aurol

Wasserstoffperoxid H2O2

Brennstoff

B-Stoff

Gemisch aus 75% Ethanol und 25% Wasser

Br-Stoff

Benzin

C-Stoff

Gemisch aus: 50% Hydrazinhydrat,

50% Methanol mit Zusatz von 0,25% Kalium-Kupfer-Cyanür als Katalysator

M-Stoff

Gemisch aus 75% Methanol und 25% Wasser

N-Stoff

Chlortrifluorid (CIF3), auch C3 genannt

R-Stoff

Tonka 250: hypergol,

57% Xylidin (CH2)2C6H3NH2,

43% Triethylamin (C2H5)3N

Katalysator

Z-Stoff

Z-Stoff N

Z-Stoff C

(= Rubid) Wasserlösung aus

Natriumper­manganat NaMnO4 bzw.

Calcium-Permanganat Ca(MnO4)2

und Kalium­permanganat KMnO4,

Katalysator für T-Stoff

Bertolin oder B-Stoff

Die Abkürzung B-Stoff wurde doppelt ver­wendet (s.o.).

Hydrazinhydrat: Lösung aus

92% Hydrazin N2H4 und 8% Wasser,

Kataly­sator für T- und M-Stoff

Nebelstoff

F-Stoff

Titantetrachlorid


Verwendete Tarnausdrücke für die verschiedenen Komponenten der Raketentreibstoffe
(Quelle: Lange „Peene­münde“, S. 64 und eigene Zusammenstellung)


Thiels Professor für Anorganik an der TH Bre­slau, Prof. Ruff fand 1929 das Monochlorfluorid (CIF) und synthetisierte danach weitere bis dahin unbe­kannte Fluoride, u.a. C3, das Chlortrifluorid (CIF3), was auch als N-Stoff bezeichnet wurde. C3 ist ein sehr starkes Oxidationsmittel. So wurde früh dar­über nachgedacht, ob das Gas als Zusatz für Rake­tentreibstoffe geeignet ist. Ruff pflegte gute Kon­takte zu Schumann und erklärte sich bereit mit dem Berli­ner Institut zusammenzuarbeiten. Es wurde eigens für N-Stoff eine Produktionsstätte einge­richtet, im Waldgebiet bei Falkenhagen.

1942 erhielt Thiel einen Anruf von Schumann N-Stoff als Zusatz in Raketentreibstoffen zu testen. Thiel lies den Einsatz von N-Stoff als Zusatz für Gasöl und Salpetersäure von der Technischen Hochschule Darmstadt prüfen, die aber zu dem Ergebnis kam, dass sich die Ausströmungsge­schwindigkeit nur um etwa 2% erhöht. Es gab also keinen Vorteil gegenüber dem Zweistoffsy­stem. Somit kam für Peenemünde N-Stoff nicht in Frage außerdem war CIF3 brandgefährlich, schlecht hand­habbar und gefährdete die Gesund­heit der Arbei­ter.

Neben der Auswahl von Brennstoff und Oxidati­onsmittel war auch deren Mischungsver­hältnis „m“ ein wichtiger Forschungsaspekt. Dipl.-Ing. Doll­hopf (Technische Hochschule Stuttgart) unter­suchte eine mögliche Leistungssteigerung des A4 durch ver­schiedene Treibstoff-Mischverhält­nisse. Er stelle fest, dass zwischen m = 0,8 und m = 1 keine Steige­rungen festzustellen sind. Daher legte Thiel am 2. Februar 1943 das Mischungsver­hältnis mit m = 0,8 fest.

Ein interessanter Raketenantrieb schien der nu­kleare Antrieb zu werden. Im August 1941 bat Thiel um einen Termin für sich und v. Braun bei Schu­mann mit der Bitte monatliche Informationen über den Stand der Forschungen zu erhalten. Schu­mann war neben seinen vielen Aufgaben auch Vor­sitzender des Uranvereins. Allerdings konnte das Uranprogramm aufgrund von immer knapper werdenden Ressourcen keinen kurzfristigen Erfolg garantieren, weshalb es ein Zukunftsprojekt blieb. 

Im März 1943 schrieb Thiel an v. Braun vom Büro Friedrichshafen/Bodensee einen Brief, in dem  er die Problematik des aktuellen Treibstoffs Flüs­sigsauerstoff-Ethanol noch einmal darstellt: „... aber ich würde, wenn wir ein Gerät heute neu be­ginnen würden, nie wieder mit Flüssig-Sauerstoff anfan­gen. Die Erfahrung, die wir jetzt bereits mit Salbei und den selbstentzündlichen Stoffen bei C2 ma­chen, sind ausgezeichnet.“ Wäh­rend seiner Abwesenheit (Thiel fuhr zu einem Kur­aufenthalt) sollte deshalb Heller erforschen, ob es die Mög­lichkeit gibt, ein hyper­goles Sauerstoff-Spiritus-Gemisch zu entwickeln. Püllenberg sollte an einem Katalytzersetzer arbei­ten.

Im Endeffekt hatte auch Thiel keine andere Wahl als sich den Vorgaben der Wehrmacht und den Kriegserfordernissen zu beugen. Das A4 wurde für Flüssigsauerstoff und Ethanol in Produktion gege­ben. Alle anderen Treibstoffe wären in der Kriegs­situation nicht in ausreichender Menge ver­fügbar gewesen und hätten Änderungen am Trieb­werk notwendig gemacht.

Erst später in den USA und der ehemaligen Sowjet­union wurden die Forschungen Thiels und seines Teams weitergeführt. So wurde beispiels­weise für die Jupiter-Rakete schon ein höhermole­kularer Brennstoff, das Kerosin, genutzt und die Saturn V – die Mondrakete – mit Wasserstoff und Sauerstoff angetrieben.


Quellen sind alle dem Paper "WALTER THIEL– DAS KURZE LEBEN EINES RAKETENWISSENSCHAFTLERS" (autorisierte deutsche Fassung des IAC-12-E4-3B, Oktober 2012) zu entnehmen.